Ein Vormittag im Bürgerservice. Eine junge Frau will ihren Wohnsitz ummelden, doch sie hat die Frist verpasst. Der neue Job, der Umzug, die Suche nach einer Kita – eine Ummeldung kann man bei solchem Stress schnell vergessen. Die Frau hatte eigentlich gehofft, einem Sachbearbeiter ihre Situation zu schildern. Doch seit Neuestem interagiert man im Bürgerservice mit einer KI, ein Gespräch mit einem Menschen ist nicht möglich. Das Fazit der KI: Die Frau muss zahlen.
Das Ganze ist lediglich ein Gedankenspiel und doch kann eben solch eine Szene im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung real werden: Was ist, wenn wir im Bürgerservice nur per KI, per Chatbot mit dem Staat interagieren? Wie verändert das die Rolle der Bürger*innen zum Staat? Gibt es Elemente der Unfairness? Was ist der tatsächliche Nutzen für die Gesellschaft?
Der OFFIS Forschungsbereich Gesellschaft beschäftigt sich mit eben diesen Fragen – und sticht damit hervor. Ein Informatikinstitut, das dem Thema Gesellschaft einen so großen Bereich widmet, ist bislang einzigartig in Deutschland. Dabei ist eben dieser Blickwinkel dringend nötig. Denn digitale Technologien durchdringen mittlerweile so gut wie alle unsere Lebensbereiche.
Bislang wurde bei der Entwicklung von Technologien meist erst im Nachhinein analysiert, welche Folgen einhergehen, wie relevant die Technologien sind und ob die Bevölkerung diese überhaupt akzeptiert.
BÜRGER*INNEN WERDEN VON ANFANG AN MITGEDACHT
Diese Herangehensweise will das OFFIS Team ändern. Das Ziel: Von Anfang an sollen die Akzeptanz, die Technikfolgen, die Ethik mitbedacht und alle Stakeholder*innen und insbesondere Bürger*innen sollen dafür in den Entwurfsprozess miteinbezogen werden.
Wie kann das funktionieren? Ein Beispiel ist die reale und digitale Bürgerbeteiligung bei großen stadtplanerischen Konzepten. Bislang können Bürger*innen sich entweder in der Stadthalle über ein zukünftiges Projekt informieren oder sie folgen dem Aufruf auf einer Seite der Stadt, um eine Meinung abzugeben.
Ob eine demographische, repräsentative Beteiligung tatsächlich gelungen ist, weiß man allerdings nicht. Die Werkzeuge, die Metriken fehlen bislang. Wer wurde erreicht? Wie wurden sie erreicht? Welche Meinungen wurden geäußert? OFFIS will hier einen Beitrag leisten, die digitale und reale Bürgerbeteiligung voranbringen.
Im OFFIS Startprojekt Digitopias wird unter anderem untersucht, wie man Menschen mit Hilfe digitaler Technologien für Bürgerbeteiligungsprozesse gewinnen kann, zum Beispiel für die Entscheidung über den Bau eines Stadions. Dabei betrachtet OFFIS verschiedene Möglichkeiten, die Menschen zu erreichen, etwa über Informationsstände, über Interviews oder über QR-Codes, die sich an Bushaltestellen befinden. Beim Scannen werden die Nutzenden direkt zum Befragungsprozess weitergeleitet.
Das Ziel ist dabei zu bewerten: Wo und wie viele Menschen wurden erreicht? Wie können mehr Menschen angesprochen werden? Die Daten werden gesammelt und anschließend ausgewertet. In Zukunft könnte auf diese Weise eine Landkarte erstellt werden, die aufzeigt, in welchen Gebieten sich Menschen beteiligt haben und wer diese Menschen eigentlich sind.
DIGITALE INNOVATIONEN ALS BRÜCKE INNERHALB DER GESELLSCHAFT
In einem weiteren Schritt wäre es sogar möglich, oppositionelle Gruppen zusammenzubringen. So treffen zum Beispiel Befürworter*innen des Stadionbaus auf die Gegner*innen und können in einen Austausch gehen. Der Gedanke dahinter: Die Entwicklung neuer Technologien soll im Sinne einer offenen, teilhabenden und demokratischen Gesellschaft gestaltet werden. Digitale Technologien können so eine Brücke innerhalb der Gesellschaft sein.
Digitale Technologien können die Teilhabe an der Gesellschaft stärken, auch damit befasst sich OFFIS. Homeschooling, Remote-Work, Zoom-Treffen mit der Familie – in der Corona-Pandemie haben wir als Gesellschaft gelernt, über Distanz in Kontakt zu bleiben, teilzunehmen.
In Zukunft müssen Lösungen entwickelt werden, die allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen, auch vulnerablen Personen – zum Beispiel Ältere, Pflegebedürftige.
Die OFFIS Gruppe Social Computing beschäftigt sich mit eben dieser Thematik, entwirft neue Beteiligungsformate für eine breite Basis der Bevölkerung. Menschen können so per mobiler App oder Webanwendung beispielsweise politische Entscheidungen treffen. Digitale Technologien können auf diese Weise das Vertrauen in Online-Medien stärken, demokratische Meinungsbildung fördern, Plattformen für eine aktive Beteiligung an Demokratie und politischen Entscheidungen ermöglichen.
Das OFFIS Team setzt sich auch mit der Frage auseinander, wie Nähe über Distanz hergestellt werden kann. Ein Beispiel: Ein virtueller Besuch der Großmutter, die in einem Pflegeheim weit entfernt von den Enkelkindern wohnt. Kann eine Technologie dazu beitragen, dass Menschen, die an verschiedenen Orten leben, sich verbunden fühlen? Kann man dabei mit Avataren arbeiten?
TECHNOLOGIEN ALS CHANCE FÜR DIE PFLEGE
Eben solche Technologien könnten in der Pflege eingesetzt werden. Auch hier wird gefragt: Wer ist betroffen? Wer ist involviert? Wie wirkt sich die Technologie auf die Menschen aus? Die Heimbesucher*innen, die Pflegekräfte, die Technologieentwickler*innen, die Familien der Gepflegten können dann in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden.
Die Menschen werden bei OFFIS von Anfang an mitgedacht, in der Erhebung, der Formulierung von Anforderungen, bei der Äußerung von Bedenken. In manchen Projekten können sie sogar selbst in einem sogenannten „Participatory Design Prozess“ aktiv mitgestalten. Sie sind dabei selbst stark im Prozess der Entwicklung, des Designs und der Evaluation des Projekts eingebunden.
OFFIS möchte mit seinen Projekten deutlich machen: Technologie ist eine Möglichmacherin und Menschen müssen bei der Entwicklung von Innovationen dringend miteinbezogen werden. Denn die Zielgruppe der neuen Technologien sind wir alle, die Gesellschaft!